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Mechthild Curtius: Frankfurter Ausflüge

Frankfurter Ausflüge 1967-1970

Mechthild Curtius - Auszug aus Universitätsroman



Dass ich überhaupt nach Frankfurt hinzog, lag an den wenigen Ausreiß-Tagen der Marburger Zeit. Im Club Voltaire, kleine Fluchten nach Frankfurt 1967 bis 1970, in Studentenheimen am Beethovenplatz wohnte ich bei dem einen oder anderen, kannte einige von da und dort, die ich nach 1975 wiedertraf, immer gab es Liebesnächte, die zauberhafteste in einer alten Fabrik in der Adalbertstraße, längst abgerissen und von einer Einkaufsgalerie bebaut. Universitätsgegend Ecke Leipziger Straße.

Auf irgendeiner Vernissage lernte ich den hellhäutigen dunkelhaarigen Mann kennen, klassisches Profil, waches Gesicht, italienischer Anzug mit taubenblauem Seidentuch, leichter Gang, sanfte und wilde Mischung sehr feiner Fingerbewegungen, die zu einer Wundernacht in einem fremden Bett übergingen. Später sah ich Peter S. im ersten Film des Alexander Kluge als Schauspieler wieder. In der Fabrik wohnte der Künstler Fiebig mit seinen Frauen, über die Mauer sahen wir den bulligen Mann an seinen Plastiken werken, die ebenso rundköpfigen Kinder spielen, im anderen Takt wohnten mehrere Studenten, ich im Zimmer der Angela Davis, die wieder in Amerika war, eine kraushaarige Schwarze Studentin, die damals viel von sich reden und schreiben machte, auch international. Einer der Mitscherlich-Söhne, Thomas, wohnte im Nebenzimmer, litt unter ihrer Abwesenheit. David Wittenberg war mein Nachbar im Westend und macht auch Filme. Der erste der Autoren, von denen ich die Hälfte im Internet der Stadt Frankfurt vermisse, war wohl Wolfgang Deichsel. Ein Wiedersehen, in den sechziger Jahren der Marburger leitete er die Studienbühne, so fingen die späteren Theaterleute oft an; später auch Peter Schütze; gemeinsam besuchten wir den Wolfgang Deichsel in einer Remise neben einer Weinbauernvilla zwischen den Rheinauen und Schloss Johannisberg in Oestrich-Winkel. Er lebte dort mit der Bühnenbildnerin Ilse Basting Zuletzt habe ich ihn auf einem Empfang vom Syndikats-Athenäum-Verlag getroffen, dort war noch meine Habilitations-Schrift über die erotischen Utopien des Thomas Mann erschienen, ehe der Verlag einging, einer von inzwischen sechs 'meiner' Verlage, die besten deutscher Sprache dabei.

Der Zwang zum Aufschreiben wächst mit dem Adrenalin des stundenlangen Schreibens, die Erinnerungen auch. Auf Wunsch habe ich den Roman meiner Universitäten - zufällig die drei Typen Alt-Marburg-Frankfurter Metropole und Gründungs-Hochschule - aufgeschrieben, bin dann lieber in die erfundenen Erzählungen gegangen, mache gerade 34 Erzählungen und 200 Seiten druckfertig. Meist neue, spielen meist in Frankreich, Italien; seit den Aufenthalten als Stadtschreiberin in Graz, Böhmen, seit dem Literaturpreis in Polen und umliegenden slawischen Ländern, Reise-Liebes-Kriminalgeschichten. Hochwassergeschichten auch. Gespräche mit Universitäts-Kollegen, Theater- und Buch-Autoren führte zur Chronik, Erinnerungen an Frankfurter Szenen, besonders Autoren zwischen 1976 und heute, ein Viertel Jahrhundert oder auch das Ende des 20. Jahrhunderts. Waren die siebziger, achtziger Jahre wirklich die großen und leider auch letzten des geistigen Säculum? Viel Neues kommt nach!

Alfred Lorenzers Seminare

Ein Buch schuf Freunde: das nachtblaue Suhrkamp-Taschenbuch von 1975 über "Theorien der künstlerischen Produktivität" - steifer Begriff, ich wollte Kreativitätstheorie vermeiden, weil das schöne lateinische Wort vom creator spiritus schon damals verkommen war. Wegen meines "Forschungs-Schwerpunkts" war ich in die Frankfurter Seminare des Alfred Lorenzer geraten. Von Kind auf habe ich diese unterschwelligen Vorgänge belauert, absichtlich vom dem Einschlafen an irgend etwas Schönes gedacht und immer öfter davon geträumt. Träume aufgeschrieben, im Dunklen und heimlich, aber wo auch immer ich die Zettel oder Hefte versteckte, jemand fand sie in dem hässlichen Nachkriegs-Neubau an den Kleinbahnschienen, war es meine Schwester Birgitta, hatte ich Glück, sie war diskret, Freundin. Monika und Mutter lasen es laut vor. Mutter verwundert, auch bewundernd, was im Kopf ihrer Ältesten vorging, die Schwester zum Hohn. Sie war der Prototyp des Normalen, der Kompliziertere auslacht.

Durchschnittlich wollen sie nicht sein, normal wohl – beides Begriffe für eine Statistik, die das Mittelfeld meint. An ihr lernte ich, die übermächtige Mitte, demokratisches System, als Feinde der Menschen in Randgebieten zu beobachten, zu fliehen und eigentlich zu belügen. Dummstellen hilft. Schön aber dumm. Ab der magischen Zahl Fünf wollte ich durch und durch ehrlich sein, für jugendschön und doof war es zu spät. Ich musste es im Interesse meiner Filme und Bücher schnell aufgeben, sie lasen immer weniger, die Biografie lasen sie. Frau über fünfzig – das zu erfragen gilt in Austria als ungustiös und in France als mal étudié - die deftigen Deutschen stellen es an den Anfang. Also habe ich mich entschlossen, vor Literaturwissenschaftlern die Dorfdichterin zu spielen, so erfuhr ich ernsthafte Anerkennung meiner Landschaftsschilderungen vor den Erforschern der besten deutschsprachigen Schilderer Stifter und Droste. Renne ich meinem Fernsehteam vorweg durch die Straßen, fragt keiner nach Biografie, sondern nach der schnellen Bewegung und Auffassung, nachher der präzisen Bilder, Töne und nicht zu vielen Sätze. Das geht, weil ich für die weiteren Wörter und die Beobachtungen, die übrig bleiben, Erzählungen schreibe. Wie sie sich mischen mit den abendlichen Bekenntnissen der Einheimischen und wie gegenwärtig in den lieblichen Dörfern das Schlimme ist, wie sich alles vermengt in einem Hirn und als Dichtung zutage tritt, erst aufs Papier der Ringblöcke, später per Tastatur und Bildschirm auf weiße Din A4 Seiten, in Zeitschriften und Bücher und wieder durch Augen und Verstand in spannende Geschichten für Fremde – das hat mich als Kind bei den Träumen fasziniert und bei der Dichtung noch immer. Weil der Münsteraner Literaturmuseums-Gründer Walter Gödden die Bedeutung von Handschriften erklärten, habe ich bange danach gesucht und Seiten meiner frühesten Aufzeichnungen gefunden. Später der Marbacher Experte im Schiller-Archiv, wo das Dutzend der handgeschriebenen Canetti-Briefe an seine erste Doktorandin lagert. Meine echte Begegnung samt Tanzabend hat die Frankfurter Allgemeinen Zeitung präsentiert, mit dem Elias Canetti seiner Bücher. Der Klatsch-Voyeurskram letzter Publikationen hat mit ihm nichts zu tun. Projetionen über einen Toten. "Männer der Macht sind lausige Liebhaber". Der Lebensentwurf des Genies ist der Gegenentwurf. Lorenzers Begriff. Suum quique - Gleich und gleich.
Ich muss sechzehn und achtzehn Jahre alt gewesen sein, es wundert mich, nicht alles vor diesen Scheelaugen vernichtet zu haben, auf alle Fälle ist das hellkarierte Tagebuch mit dem rotbraunen Lederblatt und Lederrücken fort. Ein edles handgemachtes Tagebuch, quadratisch, wie es Eltern ihren Halbwüchsigen schenken. Ein aristokratisches Pendant zum kitschigen Poesiealbum, das Mädchen auch damals führten, die immergleichen Sprüche und die knallbunten Glanzbilder außen und innen, Rosenbilder hießen sie unter uns Westfalenmädeln. Blumen und Rosen waren häufigste Motiv, nicht ganz so schrecklich wie Puttenköpfe, bei denen es nicht nur dem Raffael grauste. Gegen die Schlümpfe und Schlimmeres sind sie klassisch; Geschmack kann noch immer abfallen.

Absichtlich erlaube ich mir jetzt die in meinem Studium verpönten Assoziationen; die letzte Generation von Zeitungs-Schreibern hat sie zu einer manchmal im Witz endenden Kunstform gemacht. Je mehr freilich an Bildern der Schädel speichert, umso uferloser sind die Abfolgen. Darum nun ebenso absichtlich den roten Faden herumgerissen, zurück ins Forschungsseminar. Dass kindliche Neugier auf einen geheimnisvollen Weg von Stadt, Land, Menschen der Wirklichkeit durch den Kopf in eine neue erfundene Stadt, Gegend, Personen später zum Forschungsgegenstand wird, ist die beste Möglichkeit. Nachträglich sehen andere und ich selbst, dass es das Suchen nach etwas Eigenem gewesen sein muss. Imagination, Imago-Bild, sage ich lieber als Phantasie. Einbildungskraft konnten noch Carl Gustav Carus und Goethe den Prozess nennen.

Mit seiner tiefenhermeneutischen Literaturinterpretation kam Alfred Lorenzer gerade auch diesem Verlauf auf die Spur, gemeinsam spürten wir ihm nach. Das hatte Hand und Fuß, denn wir arbeiteten exakt am Text, einmal war es der damals immer noch wenig bekannte Elias Canetti. Später Robert Musils Erzählungen – für Seminare verschaffte mir Alfred Lorenzer Lehraufträge in Frankfurt. Manche Studenten sehe ich genau vor mir: ein junges Paar, ein Schneewittchenmädchen und ihr Freund, Philosoph und Psychotherapeut. Einen zierlichen Mann mit schmalem hellhäutigen Kopf und dunklen Augen, Stefan Schädler. Die Augen fuhren unruhig rhythmisch aus den Winkeln hin und her, wenn er intensiv nachdachte, und das war meist so. Klug und amüsant waren die Gespräche, jeder konnte sich ungeschminkt äußern und denkt und formuliert dann bekanntlich gut, er war der komplexeste, sicherlich auch der komplizierteste, der als Feind fürchterlich sein würde. Wenn er sich angegriffen fühlte, flüchtete er sich in dieses hochmütige Gebaren, das die Ferne noch schlimmer machte, arrogant nannten ihn die anderen. Zwei im Grunde Scheue sind von Kind auf gewohnt, als Außenseiter abgeschoben oder als Führer bewundert zu werden, in keinem Fall mitspielen zu dürfen. Sie erkennen sich auf den ersten Blick und halten zusammen; weil es eine Notgemeinschaft sein kann, endet es oft als Feindschaft. Nicht immer. Hier wie meist bei jungen Menschen kam das Erotische dazu. Und da wurde es in diesem Fall erst recht gefährlich:

Als ich ihn wiedersah in jenem hohen Gebäude, das mit dem geschwungenen Gründerjahr-Giebel auf den damals verkommenen Eschenheimer Turm guckte, da war er Dramaturg im Theater am Turm, genannt in Frankfurt TAT oder gar als einsilbiges Wort Tat. Im ersten Stockwerk saßen wir an den Tischen hinter der Glasfront und schauten beim Reden und Lachen und Arbeiten hinaus und hinunter auf die Autos der Eschersheimer Landstraße, die aufheulten und, wenn die Ampel rot wurde, anhielten. Stefan war nur der Genialste, Dramaturg – auch Komponist - am
Theater am Turm zu Zeiten von Peter Hahn, in den siebziger Jahren. So viele kluge Männer fand ich niemals mehr zusammen, die kluge Frauen achten und sich an den Gesprächen ungetrübt freuen. Eine Zukunftsvision davon, ohne Ansehen der Geschlechter klug und einfallsreich arbeiten zu können, zu dürfen. Aber alles wird zur Qual, wenn sich Mann und Frau ineinander verlieben, wenn Einer davon homosexuell ist. Es war eine eigene Faszination, wie schmal Frauen in der Taille sein können, war ihm ein neuer ästhetischer Reiz, auf schlankem langen das klassisch schöne Gesicht mit feinem Knochenbau und senkrechtem Profil, wie es die Kunst noch relativ klar überlieferte, jedenfalls den Geschmack intellektueller Menschen prägte, war ohnehin androgyn. Aber kluge Gespräche, Liebesspiele und Zuneigung werden am Ende zur Qual ohne eine sogenannte sexuelle Erfüllung, die vom Neandro bis heute Lebewesen erhält. Sicherlich vertrieb mich ein brutaler Fiesling von Lover, nicht nur intelligente Mädchen können sich in Rohlinge verlieben. Warum das alles in einen Hass umschlagen musste, der denjenigen auf die andere Straßenseite trieb, der den anderen zuerst sah, weiß ich bis heute nicht. Wohl aber, dass weder er noch Thorsten C. das, was sie getötet hat, mir oder eine anderen gefürchteten Frauenliebe zu verdanken haben. Mehrere der Freunde sind inzwischen daran gestorben, Stefans langjähriger Freund war das erste Frankfurter Aids-Opfer. Nur eines kurze Epoche für freies Lieben: mein Roman Jelängerjelieber soll angeblich die erste deutschsprachige Darstellung der 'Antibabypille' sein, wirklich liest davon eine Rothaarige aus der Bildzeitung vor, in Dr. Oetkers Puddingfabrik, Bielefeld Sommerferien 1957. Ein Märchen, schien es und war es, ohne Angst leben und lieben zu können. Eine Generation lang ohne Furcht von Kinderkriegen. Dann kam schlimmere Liebeshemmung: Angst vor dem Tod. Es sei zum Katholisch werden, sagte er, der es von Haus aus war wie ich. Eine gewisse Frömmigkeit bleibt nicht, sondern gehört zum Künstler und Wissenschaftler, der teilhat am Schaffen.

Mit Canettis Rückblicken auf Szenen und Zeugen einer Epoche und Städte als Vorbild, will ich Fakten erzählen. Wo sind unsere Erziehungen zu Liebe und Friede geblieben, haben sie gewirkt oder sich im All verspielt und verdunstet. Nachdenken über die erste europäische Generation ohne Liebesangst und Krieg mag jeder allein. Er blieb viele Jahre gesund, ich freute mich immer, wenn ich ihn unverändert sah, schlank, aber blühend. Der neue angenehme Freund, Musiker wie er, lud uns zu einem Fest ein. Stefan spielte am Klavier eigene Kompositionen, er komponierte immer mehr, hoffentlich sind seine Werke nicht auch verloren, Schall und Rauch.

Im Lorenzer-Seminar 1977 habe ich einige der Frankfurter Adorno-Studenten wiedergetroffen, die 1968 als Kolonie nach Marburg zu Abendroth kamen, eines der vielen Marburg-Kapitel, zwei sehr gegensätzliche Professoren mit A. Erinnerungen an Ausreißertage nach Frankfurt mit ihren Filmemachern und vielen Möglichkeiten - in Marburg war es bekanntlich nur die Universität, Patriarch, Brotgeber, Mega-Fabrik. Denk-Bäckerei, wo jedes Brötchen promoviert ist.

me@drcurtius.de
www.mecur.de



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Mechthild Curtius: Basaltstraße und anderswo
Niggelees

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