Draußen ist es kalt, Frost hat alles überzogen, Schnee wäre jetzt schön, wenn es beim Gehen unter den Füßen knirscht und der Atem dampft. Stiefel, die wärmen, eine Lammfellmütze auf dem Kopf, Handschuhe an den Händen, trotzdem die Fäuste in die Taschen gestopft; am Himmel glitzern die Sterne, so stapfe ich durch die Dunkelheit und denke nach:
Weihnachtszeit. Normalerweise hasse ich sie. Hektisch rennen die Menschen durch die Städte, quetschen sich durch Weihnachtsmärkte - , überall der Duft von Glühwein, Kartoffelpuffern und sauren Nierchen, gruselig - schmücken, backen, kaufen, ein ständiges Bemühen, damit sich endlich diese „Weihnachtsstimmung“ einstellt, an die manch einer noch so eine wohlige Erinnerung aus Kindertagen, längst vergangenen Zeiten hat. Ewige Zeiten her und ich glaube, dass die, die davon erzählen, das alles irgendwo aufgeschnappt haben. Denn längst schon ausgestorben sind die, die in aller Ärmlichkeit um kleine Krippen standen, das Jesulein bewunderten und sich vielleicht über ein paar gestopfte Handschuhe oder ein neues Kleidchen für die schon völlig abgeschmuste Puppe oder den Teddy mit den abgeknabberten ohne Ohren freuten. Wahrscheinlich sind diese „Erinnerungen“ selbst schon eine Art Produkt, gekauft, vom Handel erfunden, um die Kauflaune in der Weihnachtszeit zu beflügeln, damit die Umsätze in die Höhe schnellen, denn: Das ist keine Legende! Die Umsätze aus der Weihnachtszeit haben schon so manchen vor der Insolvenz bewahrt, zumindest konnte man sie noch ein bisschen herauszögern.
Keine Stimmung? So geht es: Noch mehr Kerzen, noch mehr Kitsch, noch mehr und noch größere Geschenke. Ihr kennt das. Man erhofft sich das Besondere und dann die Ernüchterung, wenn man erkennt, alles Illusion. Sicher, der 24.12. ist kein Tag wie jeder andere, nein, die Geschäfte machen schon um 12.00 Uhr zu, man muss nicht nur früh aufstehen, man muss sich auch noch beeilen, damit am Abend alles wie selbstverständlich bereit ist. Ein Mehrgängemenue, der festlich geschmückte Weihnachtsbaum – Stress, die Lichterkette ging nicht, man musste eine neue besorgen, es war schon fünf vor zwölf, die Geschäfte am Dichtmachen, uff, zum Glück hatte der Türke an der Ecke noch eine, die Verpackung leicht beschädigt, aber was soll’s – die Geschenke liebevoll unterm Baum drapiert, kein leichtes Unterfangen, denn die gestapelte Masse - man hat immer zu wenig Platz, bla, bla, bla - erinnert an die Cheopspyramide, doch man will’s doch bescheiden … – ließen nicht die kleinen, selbstgebastelten Sachen die Kinderaugen leuchten, damals … - schrecklich, diese Protzerei und vom Baum wäre nichts mehr zu sehen, wozu dann also dieser ganze Zauber und die Lichterkette … Also gut, man entscheidet sich für so kleine Päckcheninseln, auch ganz nett - geschafft!
Verlegenes Klingeln mit dem Glöckchen, auch so eine Reminiszenz – Kein Lied unterm Baum, klar kein Platz und außerdem schämt man sich heutzutage leicht beim Singen, denn schließlich klingt das, was man täglich so hört, doch tausendmal besser und sei es noch so stümperhaft mit dem PC zusammenmontiert. Das höchste der Gefühle, man lässt die Kinder, die Kleinen, die noch nicht protestieren können und somit wunderbar manipulierbar sind, ein Liedchen auf welchem Instrument auch immer –obwohl, Saxofon ist am schlimmsten, denn das ist tierisch laut – vergrotzen und gibt sich stolz, denn das Talent zu mehr ist unverkennbar, man lobt überschwänglich, denn positive Verstärkung soll ja gut sein. Wenn man Pech hat noch mehr Saxofon … naja.
Also doch Stimmung!
Auspacken. Aufreißen. Anschauen. Enttäuscht? Nächstes Paket. Aufreißen, Fallenlassen, nächstes Päckchen, von wem, egal, Tante Helene schreibt eh immer nur „Frohe Weihnachten" auf diesen antiquierten Geschenkanhängern, ein Dankeschön für die Spende vom SOS Kinderdorf oder den Mundmalern. (Mein Gott, man kann ja nicht jedem etwas geben.) … Nächstes Paket. Irgendwas wird schon dabei sein, was kracht, flitzt, donnert oder was so richtig abgeht. Die Family und die Kids sind happy, schön, oder??? Es ist immer so schön!!!
Früher mussten Kinder nach der „Bescherung“ ins Bett, am morgen krabbelten sie dann leise ins Weihnachtszimmer, um ihre neuen Spielsachen zu bestaunen, leise, um die Eltern nicht zu wecken, denn nichts ist schöner, als sich ungestört hinzugeben, auszuprobieren ohne Ermahnungen – pass auf, du drehst ja den Knopf ab; nicht so, du musst es so rum drehen; pass doch auf; lass doch deinen Bruder auch mal probieren … - heutzutage gehen die Kinder also nicht ins Bett, man freut sich doch so zu sehen, wie sie sich freuen und wartet geduldig, bis sie völlig übermüdet und quengelig aus den Latschen kippen. Dann ist man selbst allerdings längst schon überreif fürs Bett. Berge von Geschirr, egal. Die Kinder sollen doch so eine richtig schöne Erinnerung haben, da kann man schon mal verzichten. … Alle Jahre wieder. Genug davon.
Ich weiß es, ihr glaubt nicht mehr daran oder wie soll ich sagen, ihr könnt es euch nicht vorstellen, nicht fassen, weil es so unmöglich scheint, aber es gibt sie, gibt sie trotzdem, diese kleinen Wunder, allem Rummel zum Trotz. Fast unbemerkt ereignen sie sich und so, dass man manchmal beinahe das Staunen vergisst, ja und was noch häufiger passiert, sie gar nicht wahrnimmt. Woran das liegt, fragst du. Man kann sie eben nur erkennen, wenn man sie sieht, diese Wunder, von denen ich spreche. Was ist denn das für eine Logik, wirst du fragen. Ich bin doch nicht blind. Aber ich meine dieses andere Erkennen, dieses, nun ja, wer den Blick dafür hat, weiß was ich meine.
Da gab es zum Beispiel diesen Jungen, den kleinen Paul. Schon als er auf die Welt kam ein Wunder, aber wer ist das nicht. Doch mit Paul, das will ich erzählen, das war etwas Besonderes. Dieser kleine Mensch hatte es nämlich schrecklich schwer. Er war der Jüngste von vier Geschwistern, der Lauteste, der, der am längsten brauchte, bis er nicht mehr in die Windeln machte. Er konnte mitten am Tag träumen und es war ihm egal, wenn man ihn ermahnte. Hörte er Musik, wackelte er mit dem Kopf, war wie verzaubert. Im Winter sah er aus dem Fenster und ließ sich mit den Schneeflocken davon treiben. Sah er die Sterne, träumte er sich auf einen Planeten, umkreiste die Erde, verschwand im riesigen Weltall und erlebte unglaubliche, spannende Abenteuer. Paul machte selten, was man ihm sagte. Beim Essen kleckerte er, ganz gleich, wie viel man ihn schimpfte, sagte man ihm, er solle sich beeilen, wurde er noch langsamer, trieb man ihn weiter, drohte ihm mit Strafen, ließ er sich einfach fallen und stellte sich stur. Ärger für Paul, aber Punktsieg, die Eltern machtlos.
Hunde liebte er, seine Schwester fürchtete sich vor ihnen, das begriff er nicht, und er hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Als seine Schwester ihm von seiner Schokolade stibitzte, unerlaubt, sie lag in seiner Schachtel, stellte er sie zur Rede und prangerte sie an. Jedem erzählte er von ihrem Diebstahl, sie schämte sich, aber sie liebte Schokolade. Nein, nicht dass er selbst auch manchmal schummelte, das gehört schließlich dazu, so ein kleiner Streich ist wohl normal, oder etwa nicht?
In der Schule war er von Anfang an unglücklich. Pauls Hosen hatten immer Löcher, immer waren seine Kleider dreckig, immer hing ihm das Hemd aus der Hose. Er war eben ein Draufgänger. Alle anderen waren immer braver und besser als er, doch er, er war mutig. Obwohl der Kleinste, rannte er am schnellsten. Nur Felix war schneller, der war sein Freund, damals im Kindergarten.
Das Lernen war für ihn von Anfang an schrecklich. Still sitzen, immer machen müssen, was andere sagten, was die Lehrer verlangten, was die Eltern erwarteten, dieses schreckliche Bewertetwerden, er hasste es. Wo andere mit guten Noten glänzten, quälte er sich Wort für Wort, Zahl für Zahl und kam doch nicht voran. Aus dir wird niemals etwas werden, so sein Vater. Schon das erste Diktat, eine Katastrophe: Das verflixte „F“ Fridolin und Franziska fangen Fische. Felicitas fliegt mit dem Flugzeug nach Phoenix. Die Vögel in den Süden. Philipp nach Frankreich. - Feierabend. Paul eine fünf, alle anderen eine eins, so erzählt er noch heute, denn so fühlte es sich für ihn an. Immer war er das letzte Rad am Wagen, immer war er der, dem nichts gelang. Er konnte tun was er wollte, sein Vater sah immer nur das, was nicht funktionierte, was nicht dem entsprach, was er erwartete. Paul spielte Gitarre, er spielte gut, doch nie war es dem Vater genug. Paul ging es um das Spielen, dem Vater um das Üben. Ein ewiger Kampf. Einmal schlug Paul vor Wut eine Delle in die Schranktür. Die Zeit verging.
Sein Abitur schaffte er gerade so, machte eine Lehre, war gut, sogar sehr gut. Besser als die anderen. Jeder wollte ihn haben, er wechselte die Firma, wechselte wieder, stieg auf und war plötzlich ganz oben. Niemand hatte an ihn geglaubt, doch er hat es allen gezeigt. Gut, die Karriere hat ihren Preis. Immer unterwegs, immer getrieben, das hört nie auf. Nichts klappt, die Mitarbeiter müssen ständig gecheckt werden, die Zahlen müssen stimmen, die Ziele werden immer höher gesteckt, niemand kann das schaffen, doch er bringt sein Team dazu. Du siehst, wenn man etwas wirklich will, dann kann man das auch schaffen.
Paul hat es geschafft.
Darüber hat er ganz vergessen, wie sie aussehen, die Schneeflocken, die Sterne, hat vergessen, wie das war, damals, als er sich in die Umlaufbahn träumte, als er beim Musikhören mit dem Kopf wackelte. Es war ihm nicht mehr wichtig. Doch eines Abends, es war kurz vor Weihnachten, tausend Sachen mussten noch auf den Weg gebracht werden, da schaute er zufällig beim Essen aus dem Fenster. Auf dem Schreibtisch stapelte sich wie immer die Arbeit, das Blackberry brummte, seine Kinder stritten wie so oft miteinander, seine Frau wirbelte wie so oft durch das Haus. Doch irgendetwas war anders. Er blickte aus dem Fenster, ein Stern blinkte zwischen den Schneeflocken auf, heller als alle anderen. Paul schaute genauer hin und verlor sich. War es die Erinnerung an früher, war es die Sehnsucht nach Harmonie, war es, weil es aussah, als schien der Mond heute besonders hell oder doch die Sterne, die Planeten oder das Schnurren der Katzen, ich weiß es nicht. Paul lehnte sich zurück und entspannte sich. Er lächelte seine Kinder an. Ungläubig betrachtete er sie. Wie groß sie geworden waren, wie sie sprachen, wie sie aussahen, wie sie sich bewegten. Er schaute und staunte. Und vergaß für den Moment alles, was es noch zu tun oder zu beachten galt, Goals, Conference Calls, Elternabende, Boni, das Nachtflugverbot.
Ich liebe euch, liebe euch alle und ich weiß, ihr könnt es schaffen, sagte er plötzlich. Verdutzt schauten seine Kinder zu ihm hin. Voller Genuss trank er einen Schluck Bier und wunderte sich, wie köstlich es schmeckte. Wunderbar.
Nicola Piesch 03.12.2012
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