Kinder stehen an Kreuzungen und putzen Fensterscheiben, reinigen Bürgersteige und Gehwege in Parks, schippen Schnee, tragen die Taschen von Müttern und Vätern und haben selbstgebackene kleine Kekse in den Taschen, die sie an Kinder und Wohnsitzlose verschenken – ja - am 6.12. ist Lemmingday, der Tag im jährlichen Trott der Kinder, an dem die Uhren anders ticken. Am 6.Dezember jährt sich zu 35. Mal das Fest der Lemminge, Grund genug, einmal das Buch der Geschichte aufzuschlagen und dieser wunderbaren Begebenheit auf den Grund zu gehen. Erinnern wir uns an die Erzählungen unserer Großeltern. Mit Spannung erwarteten sie das sogenannte Weihnachtsfest, ein Tag, an dem vor langer Zeit der Geburtstag eines heiligen Babys gefeiert wurde, von dem man glaubte, es könne die Welt vor aller Lieblosigkeit und anderen Grauen retten. Diesem Geburtstag ging ein Monat voraus, in dem sich die Menschen auf das besondere Ereignis vorbereiteten, sie banden Tannenzweige, zum Zeichen der Hoffnung und buken allerlei Gebäck, das man ausschließlich im Dezember kaufen konnte, ganz anders als heute, wo man den Dresdner Christstollen auch im Hochsommer auf Mallorca kaufen kann. Ein erster Höhepunkt in dieser Zeit des Wartens, besonders im Leben der Kinder, war der 6. Dezember, der Nikolaustag. Der Nikolaus brachte den Kindern die sich über das Jahr anständig, fair und loyal verhalten hatten Gummibärchen, Matchboxautos, Socken und andere Kleinigkeiten, denen, die gegen die allgemeingültigen Regeln verstoßen hatten, faul, untätig und aggressiv herumlungerten, riet er, sich zu bessern, sonst, da schwang er drohend seine Rute, müsse er deutlich werden. Die Menschen liebten und fürchteten den Nikolaus und das Leben verlief in einigermaßen geordneten Bahnen. Mit der Zeit aber verloren besonders die Eltern jedes Maß und Ziel. Sie wetteiferten geradezu miteinander und überboten sich im Beschenken ihrer Kinder, hofften sie doch, sie mit Hilfe der Geschenke zu manipulieren und günstig stimmen zu können. Schnell verstanden die Kinder das Prinzip. Sie erpressten die Erwachsenen – kleine Geschenke, große Gewalt, große Geschenke, kleine Gewalt. Ein regelrechter Konsumterror erwuchs aus dieser Situation, an der die Gesellschaft zu zerbrechen drohte. Auch vor dem Nikolaus machten die kleinen Monster nicht halt. Die Nikoläuse, seit den frühen 80ziger Jahren des 20.Jahrhunderts gewerkschaftlich organisiert, bekamen die neuen Gesetze des Marktes ganz besonders deutlich zu spüren: Brachten sie statt Nike Adidas, statt Nintendo Mensch ärgere dich nicht oder statt Mp3 –Player eine Blockflöte, zogen ihnen die Kinder eins mit der Rute über, manche folterten diese friedlichen alten Männer, die doch nichts anderes wollten, als Liebe und Freundlichkeit zu bringen, so sehr, dass sie die Flucht ergriffen. Im Schutz einer Tiefgarage verabredeten sich die geschundenen Wohltäter und berieten, was zu tun sei. Das war im Jahr 1997 und hier beginnt unsere Geschichte der Lemminge, deren Tradition wir heute also zum 35. Mal genießen. Man überlegte, einen Aufstand zu planen, doch die Meldungen von der alltäglich um sich greifenden Gewalt, ließ die Nikoläuse resignieren. Wir müssen ein deutliches Zeichen setzen, forderte Ruprecht, einer der treusten Freunde der Nikoläuse. Neben vielen Vorschlägen wie Hungerstreik, Kettenrauchen in öffentlichen Räumen, Verkehrsblockaden an verkaufsoffenen Sonntagen, setzte sich endlich einer nach langer Diskussion durch. Wollen wir die Menschen wirklich auf die Missstände aufmerksam machen, müssen wir uns gemeinsam umbringen. Wir entziehen uns dem Konsumterror, indem wir uns der Welt entziehen, sprach der dienstälteste der Nikoläuse. Das klang für alle logisch, so musste nur noch ein möglichst aufsehenerregendes Arrangement verabredet werden. Lasst uns einen Protestmarsch quer durch Europa bis rauf nach Skandinavien machen, dort springen wir dann die Steilküste hinunter, fuhr er seine Idee fort. Gesagt getan. Im Hochsommer begannen die Nikoläuse ihren legendären Marsch, der auch unter dem Begriff Nicwalk in die Geschichte eingegangen ist. Wo sie auch liefen, immer wurden sie von den Menschenmassen bejubelt, doch sie marschierten wortlos und aufrechten Ganges weiter. Niemand wusste von ihrem Vorhaben. Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht, entschlossen setzten sie Fuß vor Fuß dem Abgrund entgegen, doch dann passierte, worauf keiner gefasst war. Eine Herde Lemminge marschierte ebenfalls auf die Steilküste zu, um auf ihre Art der Nahrungsknappheit zu begegnen. Kopf an Kopf standen sich nun die beiden Gruppen gegenüber. Das ist unser Revier, hob Philipp der Fünfzehnte, König der Lemminge an und schaute fragend auf die Nikoläuse, was wollt ihr hier? Da brachen sie ihr Schweigen und berichteten den Lemmingen, wie übel ihnen mitgespielt worden war, wie dicke Kinder ihnen Turnschuhe, Stretchhosen, Legosteine oder anderes Zeug um die Ohren geworfen hatten. Keine Liedchen wurden mehr am Nikolausabend gesungen, geschweige denn Gedichte aufgesagt. Nichts, wie räudige Hunde waren sie verjagt worden, wenn sie in ihren ausgeleierten Kartoffelsäcken die falschen Sachen gebracht hatten. Die Lemminge sahen ein, dass hier konsequent gehandelt werden musste. Gut, schlug Philipp vor, ihr springt und wir bleiben, doch wir wollen euer Andenken in der Welt bewahren. So übernahmen denn die Lemminge Mitra und Bischofsstab der Nikoläuse und erstürmten am Nikolaustag die Kinderzimmer, Kaufhäuser und Kirchen. Nichts war vor den zähen Nagern sicher. Hartnäckig zerstörten sie, was sich ihnen in den Weg stellte. Ängstlich kauerten sich die Kinder und Erwachsenen zusammen, versteckten sich in Kellern, Schränken oder sonst welchen Löchern um vor den temperamentvollen Rächermäusen zu fliehen. Erst als die Menschen versprachen sich wenigstens einmal im Jahr anständig und fair zu benehmen, dem Konsum zu entsagen und Frieden und Menschlichkeit in Erinnerung an die Tradition der heiligen Nikoläuse zu leben, ließen die Lemminge von ihnen und ihren Statussymbolen ab. Seitdem feiern die Menschen den Lemmingday. Und wenn die Menschen schön artig sind, verteilen die Lemminge wie eh und je Bratäpfel, Lebkuchen und Schokoladennikoläuse. Nur die echten Nikoläuse hat niemand mehr seit diesem denkwürdigen Sprung in die Tiefe gesehen. Neulich wurde ein Lemming in Nikolausmontur gesichtet, er sauste mit seinem Schlitten durch die Stadt und verteilte Spielsachen und Äpfel an die Kinder. So kehrt doch in der Weihnachtszeit dank unserer unermüdlichen Lemminge ein wenig Frieden und Menschlichkeit zurück in unsere Welt. Doch wehe dem, der ... Nun, das ist bekannt. Die Lemminge sind gnadenlos, denn das sind sie den Nikoläusen schuldig.
27.11.2005 Nicola Piesch
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